Dass dem Menschen in einer immer schnelllebigeren und lärmigeren Welt das Hören und Sehen vergeht, ist offenbar ein Preis der Zivilisation. Ein Ertauben, ein steter Hör-Verlust im äußeren Lärmpegel: Wie müssen sich da jene fühlen, denen der verbindende Sinnenreiz die Grundlage ihres Kunstempfindens ist? Die Synästhesie (συναισϑάνομαι ) verbindet die beiden altgriechischen Begriffe syn („zusammen“) und aistesis („empfinden“). Zwei Sinnesbereiche berühren sich und verschmelzen, in diesem Fall das Optische und das Akustische. Was erst mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so benannt wurde, hatte seine Vorläufer bereits in der Romantik, und dabei vorneweg in der Person eines wahren Triathleten der Kunst-Fertigkeit. Der Autor-Maler-Musiker E.T.A. Hoffmann, aller Wahrscheinlichkeit nach der geborene Synästhetiker, lässt seinen Kapellmeister Kreisler über eine „Übereinkunft der Farben, Töne und Düfte“ fantasieren. Er beschwört das „Hören und Sehen von innen“, „nämlich im innersten Bewusstsein der Musik, die mit seinem Geiste gleichmäßig vibrierend aus allem ertönt, was sein Auge erfasst.“
Zwei Arten der Synästhesie seien hier erwähnt, das gerade genannte „Farbenhören“ und das „Tönesehen“. Während Musiker wie Sibelius oder Skrjabin, wie Messiaen oder Ligeti, allesamt wohl synästhetisch äußerst bewandert, tief in die bildgebende Kunst blickten, um ihr etwas abzulauschen, gab es unter Zeichnern und Malern auch solche, die es umgekehrt versuchten. Wer da nicht hören will, muss mit Nietzsches Zarathustra zwar weniger fühlen als vielmehr sehend werden: „Muss man ihnen erst die Ohren zerschlagen, dass sie lernen, mit den Augen zu hören?“
Die audition colorée schlägt sich in Klangfarben(melodien) nieder. Der gesehene Ton wird dagegen Bild. „Wenn ich Musik höre, dann sehe ich sie.“ Dieser sinneseindrückliche Leitsatz der Künstlerin Irmela von Hoyningen-Huene lässt ihre synästhetische Begabung erahnen, beglaubigt wird sie durch ihre Bleistiftzeichnungen, sowohl farbig als auch schwarzweiß. Denn anders als dem von ihr (neben Paul Klee) überaus geschätzten Wassily Kandinsky, dem Gründervater der absoluten Malerei, ist ihr die Farbigkeit nie Mittelpunkt, sondern immer Mittel zum Zweck gewesen.
Kandinskys Wahrnehmung bediente sich ausführlich der Klangfarbenpalette. Sein helles Blau entsprach der Flöte, das tiefste Blau dagegen der Bassgeige. Abstufungen des Violett spiegelten sich in verschiedenen Holzblasinstrumenten, und manche Farben verursachten ihm Pein: „Das grelle Zitronengelb tut dem Auge nach längerer Zeit weh, wie dem Ohr eine hochklingende Trompete.“ Kandinsky konnte Buntes aber auch nahezu schmecken: „Gelb macht einen sauren Eindruck.“ Der Synästhetiker Nabokov sah farblich differenziert bis in einzelne Buchstaben, ein f erschien ihm erlenblattgrün, ein t pistazien- und ein v rosenquarzfarben. Und ein m kam rosaflanell daher. Wie anders wiederum Franz Liszt, nicht Farben hörend, sondern Töne sehend: „Das ist ein tiefes Violett“, wies er sein Orchester an, „ich bitte, sich danach zu richten. Nicht so rosa!“
Von Irmela von Hoyningen-Huene ist nicht überliefert, ob sie besser Töne sah oder eher Farben hörte, was zu vermuten ist. Sie soll, heißt es, das „Werden und Wachsen“ der Pflanzen gehört haben. Eine Empfindsamkeit im Reiz, die sich auch in der Äußerung niederschlägt: „Ich höre auch in der Stille Musik“.
Danach hat Irmela von Hoyningen-Huene in den mehr als 30 Jahren ihrer erstaunlichen Alterskarriere als Künstlerin gehandelt und gearbeitet. Konsequent, nach dem Nachmittagstee um 16 Uhr, in einembegrenzten Zeitfenster und in der Stille des Augenblicks, der zwar oft genug der Musik nachempfunden, aber ihr nie geopfert wurde. Ein musischer Prozess auf das Sehen und Erkennen hin, aber nach innerem Gehör. „Eine Zeichnung ist erst fertig, wenn sie klingt“: Noch so ein Postulat, das von großer Gewissheit kündet. Soli deo gloria , Bachs und Händels Leitsatz: Irmela von Hoyningen-Huene wusste, wann das Blatt vollendet war. Und wann es dabei Zeit sein würde für den Schlussakkord, den letzten gesetzten Ton.