Die konzeptionelle Stringenz im Werk von Irmela von Hoyningen-Huene zeigt sich im unverkennbaren Rhythmus der Zeichnungen; ein fundamentaler „Grundklang“, dessen „Aura“ ihre künstlerische Identität ausmacht und das Werk unverwechselbar und einzigartig charakterisiert: kleine Blätter, nahezu gleichformatig und fast alle querformatig, in Bleistift – teils unterstützt von Filzstift – und Farbstift. Diese „Miniaturen“ thematisieren weit ausgreifende, expansive, zugleich intime, verinnerlichte Visionen als freie, in sich vernetzte Räume des Schöpferischen. Die inhaltlichen Vorgaben – Musik, Philosophie, Denkgebäude, Kulturen, Fremdkulturen – werden visuell versinnbildlicht und mit zeichnerischer Dynamik in weite, endlose Räume katapultiert, die auch unprogrammierte, unberechenbare gestalterische Vibrationen zulassen. Chaotisches, Explosives, Vulkanisches, Ungesichertes eskaliert. Visionen entfalten sich in einem mehrdimensionalen universalen Raum – ein „mikroskopischer“ „Kosmos“, der großräumig expandiert.
In ihren Zeichnungen begegnet Systematik dem Irregulativen, das Rationale dem Irrationalen und in gewissem Sinne auch das Materielle dem Immateriellen. Letzteres bezieht sich nicht nur auf die Inhalte, die ausabstrakten und ideellen Bereichen heraus geboren werden, sondern auch auf den zeichnerischen Fundus: wo Blei-Stift materiell spürbar ist, rau oder glatt, hart oder weich, wo Bunt-Stift oberflächlich Spuren hinterlässt, kantig, glänzend, stumpf, schimmernd – je nach Farbe, Stift, Duktus. Das musikalische Pendant zu diese rzeichnerischen Welt wäre die „Fantasie“, eine kompositorische Form der klanglichen und gestalterischen Orientierungsversuche, rhythmisch, melodisch, klein- oder großformatig, aber immer über die„Verhältnisse“ des Regulativen hinausgreifend: ausschweifend, ordnend, modifizierend, variierend, improvisierend, fantasierend; thematische und formale Grund-Strukturen, das „musikalische“ Ausgangsmaterial, werden aufgebrochen, das Normative aufgesprengt und das System unterwandert; eine nur sporadisch unterbrochene „Fortsetzungsgeschichte“, die immer wieder Neues erfindet. Und dennoch: Die emotionalen, sich verselbständigenden gestalterischen Freiräume, die ins Fantastische weisen, besinnen sich ihrer musikalisch-zeichnerischen, zeichnerisch-musikalischen Reflexionsebenen. Die „Fantasie“ ist – im weitesten Sinne – das Feld, das Reservoir für Kreativität; sei sie nun aus Ereignissen, aus künstlerisch-philosophischen„Events“ oder aus den inneren Kräften unausgesprochener Fantasie erweckt und gespeist. Visionäre, fiktive Welten tun sich in Frau von Hoyningen-Huenes rhythmischen Geflechten auf, sie entfalten sich aus einer einfachen Substanz des Zeichnerischen heraus; ein – so kann man, bezogen auf die künstlerischen Gestaltungsebenen, sagen – durchaus „begrenztes“ Repertoire, das aber gerade in seiner stringenten Haltung und Konsequenz ein Reservoir für Intensität birgt: die Intensität des Einmaligen, das innerhalb des Konzepts ihres Gesamtwerks in sich ständig fortsetzenden Schritten eine authentische bildnerische „Philosophie“ zusammensetzt.
Ohne Titel, 1966
In die Zeichnung hineinsehen (nicht etwas in sie hineininterpretieren) bedeutet, in ihrem Inneren immerwieder andere und benachbarte Welten, Bilder, Öffnungen, Fantasien wahrzunehmen, welche die Zeichnung vertiefen und ihr neue, weiterführende Dimensionen vermitteln. Innerhalb des Bildes entfalten sich vielschichtige Ebenen mit einer nach vorne ausgerichteten Perspektive. Es sind Positionen, Blicke (Ein- und Ausblicke), die komplexen Wahrnehmungsebenen entsprechen und nahezu futuristisch orientiert sind(hier öffnet die originäre, verbindliche Betitelung einen „motivischen“ Assoziations-Spielraum).Die Bilder Irmela von Hoyningen-Huenes verkörpern ein für die Künstlerin wesentliches Erlebnis, einmusisch-kulturelles Ereignis, auf das ihre Zeichnungen reagieren. Sie ertasten, filtern, sie bewegen und strukturieren, sie erneuern einen musikalischen, philosophischen, rituellen Impuls. Innerhalb ihres Gesamtwerks dominieren die klanglichen Elemente, die in ihren Zeichnungen visuell erinnert und unmittelbar präsent werden. Unsere komplexen Wahrnehmungsfelder werden wachgerufen: Hören-Sehen-Spüren als Einheit. Diesen essenziellen Vorgang, den jene Bilder zur Wirkung bringen, kann der Betrachter nicht direkt rekonstruieren, es bleibt ein assoziativer Spielraum, um eigene Erfahrungen mit der Ausdrucksweise der Bild-Autorin zu verbinden. So suchen wir einen Weg durch die jeweilige Zeichnung, weiten deren Horizont (und damit unseren eigenen) und fühlen, denken, fantasieren weiter. Mit einer vagen Vorstellung von diesem Vorgang, der sie jeweils inspirierte, projizieren wir das Gesehene in die Welt unserer Kreativität hinein – korrespondierend mit reflektiven, gedanklichen, emotionalen und visionären Schritten.
Hier tut sich ein „spekulatives“ Tor auf: diese Zeichnungen als Partituren zu erleben, die zwar Reminiszenzen gehörter Musik oder direkter Klang-Vorstellungen beinhalten, die aber mit dem Eigenleben der Zeichnung gleichzeitig eine „neu“ erfundene Musik bildlich „erklingen“ lassen. Diese könnte sich von dem klanglichen Ereignis weiter befreien und zum Fundament, zur „Architektur“ einer autonomen, individualisierten„Musikalität“ (musikalisches Empfinden, Wirkung wie Musik) erwachsen. Die Zeichnungen, die sich auf philosophische und andere Bereiche beziehen, assoziieren Denk-Modelle, Denk-Gebäude, Gehirn-Strukturen, sie umfassen ein „Gerüst“ gedanklicher Potenziale und eine engagierte und authentische Sicht gegenüber der Welt. So machen sich die Kapazitäten der Wahrnehmung von apodiktischen Kriterien frei: Hören-Gehörtes wird über zeichnerische Wege visualisiert und über den Zeichenstift in weitere Dimensionen hinein belebt und erneuert, es wird von innovativer Vitalität begleitet und über die Fabulier-Lust der Künstlerin in eine unerwartete, unberechenbare, unorthodoxe Ereignishaftigkeit hinein geführt.
In den Schwarzweiß-Modulationen der Bleistiftzeichnungen wie in den farbigen Buntstift-Kompositionen wirkt ein Geflecht von Harmonie und Dissonanz, von Kontrapunkt, Takt, Polyphonie, Melodie: Es zeigen sich horizontale, vertikale und diagonale, helle und dunkle Rhythmen, Tonarten und „Klang-Farben“. Es sind „mozarteske“ Phrasierungen, romantisches „Pathos“, rituelle „Ornamentik“, die Frau von Hoyningen-Huenes Zeichnungen inspirieren. Rationale Systematik, tänzerische Euphorie, technisch-apparative Explosivität zeigen das Gegenwartsbewusstsein, eine zeitgenössische Vitalität der Künstlerin, deren zeichnerisches Repertoire auch die „schrillen“ Töne bildnerischer Gestaltung mit homogenen Bewegungsabläufen verbindet. Man ist immer wieder dazu angehalten, ihre Darstellungen als Partituren zu lesen, um ihre zeichnerischen Notationen wieder in Musikalisches und Gedankliches zu verwandeln.
Die Zeichnungen „sprengen Fesseln“. Sie manifestieren denkbare mögliche Künste und Sprachen, wo sich unterschiedliche schöpferische Motivationen begegnen; die Zeichnung – ein Feld, auf dem das Emotionale dem Kalkül und das Spontane dem Konstruktiven vertraut. Irmela von Hoyningen-Huenes Bilder verkraften heterogene Pole, thematisieren Dualismen und entfalten unterschiedliche Bewusstseinsebenen. Es fasziniertdas „ungelernte“, autodidaktische Selbstbewusstsein, die Entschiedenheit einer eigenständigen künstlerischen Idee, die geradezu „süchtig“ ihre Möglichkeiten ausbalanciert und zeichnerisch-bildnerisch sprachfähig macht. Frau von Hoyningen-Huene orientiert sich (positiv) in die Zukunft hinein, sie befragt die Fragwürdigkeit des Wissens. Sie zeigt sich optimistisch und gegenwartsbewusst, sie kommuniziert mit der Epoche,mit den „Kulturen der Welt“, wobei auch soziale und politische, technologische und digitale Komponenten der massenmedialen Gesellschaft wahrgenommen werden. Sie „hat keine Zeit zum alt werden“ – und fragt:„Was ist, wenn es keine Energie mehr gibt?“ Sie sieht ihre künstlerische Arbeit als „Überlebensstrategie“, siefühlt sich kosmopolitisch innerhalb einer komplexen kulturellen Weltgemeinschaft. „Wie funktioniert das Gehirn?“ „Was ist Kunst?“ „Was ist Leben?“ Sie sieht und durchleuchtet die Dinge im – wie sie sagt – „umgekehrten Fernglas“ (also zugleich nach innen und außen gewendet). Sie „reist im Kopf“.Farbstifte und kleine Bleistift-Reste (8B) – handwerklich stringent, nicht perfektionistisch, aber durchausmit versiertem Raffinement aktiviert, in festem und leichtem Auftrag, oft moduliert mit Fingern und manchmal unterstützt durch Filzstift – fangen irgendwie irgendwo an; Radiergummi-Verwischungen „vergrauen“ dezidierte lineare Bewegungsgefüge. Impulse kommen und gehen, engmaschig und weitsichtig, immer über den Horizont hinweg orientiert. Einen Entwurf, eine feste Vorstellung im zeichnerischen Prozedere gibt es nicht. Nicht jeden Tag, auf mehrere Tage verteilt entsteht ein Bild: gezeichnet und geschrieben, philosophiert und musiziert („Philosophie klingt nach“) – labyrinthisch, transparent, konzeptuell, vital, festlich, ordentlich, miniaturistisch, makrokosmisch, endlos, dazwischen, licht, dunkel, schattig, nah und fern, dicht, weit, immateriell, substanziell, perspektivisch, atmosphärisch …
„Andere Stimmen – Andere Räume“, zitiert nach dem autobiografischen Roman von Truman Capote, wurde als Leitmotiv dieses Textes gewählt, der sich auf die Publikation Irmela von Hoyningen-Huene Musiksprengt die Fesseln bezieht (herausgegeben im Jahr 2000 für eine Ausstellung der Städtischen Galerie Ochsenhausen,im Heidelberger Kunstverein und in der Stadt Tübingen). In Capotes selbstreflektivem Exkurs über die Entstehung seines Roman-Projektes findet sich eine Sentenz, die seine instinktive und zugleich konzeptuelle ganzheitliche „Wahrnehmung“ seiner literarischen Idee charakterisiert. Sie endet mit der Feststellung:„Die Hauptaufgabe eines Künstlers“ bestehe in der „Zähmung und Gestaltung der ersten Vision“(Die Stimme aus der Wolke , 1967 geschrieben, bezogen auf den Roman, der 1948 herausgekommen war).Dieser Satz zentriert das Thema Kunst im Sinne einer über Jahrzehnte dauernden, ganzheitlich orientierten gestalterischen Fortsetzungsgeschichte, wie sie Irmela von Hoyningen-Huene visuell „erzählt“ (wobei hierkeinesfalls ein Vergleich ihres Werkes mit Capotes Erzählkunst suggeriert werden soll).Irmela von Hoyningen-Huenes Gestaltungs-Philosophie setzt ein mit farbigen und schwarzweißen Zeichnungen der 1950er und 1960er Jahre. Natürliche und architektonische Impressionen, Licht-, Form- und Raumempfinden sind hier über zeichnerische Prozesse intensiv und im Detail großflächig veranlagt verdichtet und strahlen dabei eine im Vergleich zu später deutlich realitätsnähere Atmosphäre aus. Dann folgen die vielen reichhaltigen Jahre ihrer visionären, unorthodoxen Zeichenkultur, die vielschichtige Assoziationen begleiten und die von kulturellen Komplexen motiviert wird. Ihre stilistische Identität findet in diesen Jahrzehnten ihren gestalterischen Höhepunkt.
Doch wie ist das erstaunliche Spätwerk zu charakterisieren, das die fast hundertjährige Künstlerpersönlichkeit in den letzten Jahren – bis 2012 – realisierte? Ein mehr und mehr fragendes Werk, das sich inhaltlich intensiver mit persönlichen Reminiszenzen befasst („Gespräch über paläontologische Ausgrabungen meines Vaters in Brasilien 1928“, Abb. 1135), das mit Religiosität („Golgatha“, Abb. 1001, 1035), mit Krankheit und Tod, mit natürlichen – metaphorisch übertragbaren – Phänomenen, Grenzsituationen, Universalität und letztendlich auch politischem Alltag bzw. übergeordneter Alltäglichkeit korrespondiert („Die Unruhe inder Welt“, Abb. 1131, noch im April 2012 gezeichnet). Die Linienführung, der zeichnerische Duktus, wirktleichter, konturierter, einfacher, schwankt zwischen Gelassenheit und unruhiger Bewegungsrhythmik: in ornamentierten, nach allen Bildseiten greifenden Geflechten, geschwungen und kantig, zentriert, labil, kontrastierend, geordnet, verunsichert, hart und weich, licht und schattig. Als Leitmotiv für diese Phase ihres Lebens und ihrer Kunst gilt der Werktitel einer Zeichnung von 2010: „Vieles bleibt Rätsel!“