Auszug aus der Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Zeichnungen, Bleistift, Buntstift“
von Irmela von Hoyningen-Huene am 9. Mai 1989 im Clubhaus der Universität Tübingen
Diese Kunst ist gleichzeitig völlig abstrakt und vollkommen gegenständlich. Abstrakt, weil sie jeden Bezug auf die sichtbare Realität abweist, realistisch, weil sie genauestens etwas abzubilden meint, nämlich Musik. Es gibt in diesen Bildern nichts, das nur wegen seiner optischen Qualität da wäre, alles ist genaueste Verkörperung von Gehörtem verschiedenster Art, von Jazz, Volksmusik, Konzertmusik, Lied, Oper, europäischer, afrikanischer, asiatischer Musik. Die Verkörperung geschieht unmittelbar, als Vision im Hören selbst. Sie wird im spontanen Machen erneuert und präzisiert. Zwischen Bild und Sache besteht Identität: Frau von Hoyningen würde niemals sagen: „Das bedeutet dieses und jenes“, sie sagt immer: „Das ist …“ – die gehörte Musik ist nicht nur auslösender Anlass, sondern auch bleibender Inhalt. Frau von Hoyningen-Huene kann sie aus den Bildern wie aus Partituren zurück holen. Die leidenschaftliche Intensität und Präzision des Hörens gibt den Bildern etwas Ekstatisches und Festliches, etwas Gesteigertes und Erhöhtes, das wir ablesen können, auch wenn wir die Musik im Sehen nicht hören.
Ambivalenz von Abstraktheit und gegenständlicher Bedeutung bringt grafische Zeichen zwangsläufig in die Nähe der Schrift – nur dass hier eben das Zeichen mit dem Bedeuteten eins ist. Es gibt aber schriftartige Typisierungen, charakteristische Auseinandersetzungen von Zeichen, die sich wiederholen. Im Französischen heißen Buchstaben caractères, Charaktere. Die polarisierten Zeichen schaffen in Wiederholung und Variation leicht ablesbare Rhythmen. Diese sind oft leicht und tänzerisch, oft auch von majestätischer Schwere.
Musik ist in der Zeit, Bilder sind im Raum, drücken Zeit durch Räumliches aus. Die zeitliche Form im Bildraumist die fortlaufende, immer wieder aufgenommene Linie. Zeitliche Bilder, etwa die von Pollok, sind labyrinthisch, das heißt in allen Richtungen gleichzeitig abzulesen. Dagegen ist Musik als ein vom Anfang bis zum Ende abzuschreitender Weg eindeutig gerichtet. Kunst, die sich an Musik orientiert, liefert darum meist einen Ariadnefaden der gerichteten Abfolge mit und scheitert daran.
Frau von Huene ist von diesem Irrweg weit entfernt. Sie setzt das Zeitliche der Musik unmittelbar in Raum um, einen Raum, der befestigt ist durch die Unterschiedenheit und Kontraststärke ihrer Formen. So schafft sie Gleichzeitigkeit, gleichzeitiges Klingen, in dem die rhythmischen Abläufe einander festhalten.
Rede auf Irmela von Hoyningen-Huene zur Eröffnung ihrer Ausstellung
in der Hans Thoma Gesellschaft Reutlingen, 1992
Dass eine über alle Maßen begabte Person den Großteil ihres Lebens damit verbringt, in der Stille ihre drei Kinder großzuziehen, um dann noch ihren Enkel mit großzuziehen, dass sie wartet, bis sie mit alldem fertig ist, ehe sie sich erlaubt, ihre Kunst auszuleben, das ist ein weibliches Schicksal.
Wenn in einer Explosion ein lang im Verborgenen Gereiftes auf einmal und fertig zutage tritt, dann ist das weibliche Kunst – deshalb, weil Männer, die Männerbiografien haben, solch späte Explosionen nicht nötig haben.
Die Klangfolgen und Rhythmen der Huene’schen Bilder sind gleichzeitig da, darum sind diese Bilder auch Landschaften, man imaginiert Gefilde, Himmel, Bühnen, Bäume, Zirkuszelte und was auch immer. Ich finde Frau von Huene in der Tradition der Landschaftsmalerei. Die Romantiker sahen die Landschaft musikalisch, sie sieht die Musik landschaftlich. Überhaupt mag sie nichts trennen: Das Reale, das Imaginäre, die Klänge, die Dinge, die Geschehnisse sind ihr aus derselben Wurzel – Spiegelungen, die einander spiegeln. Sie lebt in einem zusammenhängenden Universum.
In den neueren Bildern tauchen immer öfter Ereignisse auf, die nicht aus der Musik, aber gewissermaßen musikdramatisch inszeniert sind: Rabins Tod, Mandela in Freiheit, Winterolympiade, Moskauer Putsch,„Meister und Margarita“. Auch hier sagt sie nicht: „Das bedeutet“, „Das bildet ab“, auch hier sagt sie: „Dasist“. Auch hier ist die Vision eine unmittelbare, die Umsetzung automatisch und zeitgleich zum Ereignis, wenn auch die Ausarbeitung nachfolgen mag. Das bedeutet eine extreme Polarisierung von ganz außen und ganz innen. Es bedarf des Ereignisses, dem sie sich öffnet, seine Spiegelung geschieht aber unbewusst in einem dem Willen unzugänglichen Bereich. Die Spannung von ganz außen zu ganz innen ist die Identität von ganz außen und ganz innen.
Ich kenne nur einen Fall von vergleichbarer Verbindung von provozierendem Ereignis und antwortender Spontaneität: das ist der so anders geartete Grieshaber. Der sprach seine Antworten auf das Außen wieder in das Außen hinaus, während von Huene die ihren bei sich behält und in der Schatzkammer ihrer Kunstwelt behütet.
Offenbar ist, dass von Huene in hohem Maß die Eigenschaften hat, mit denen in dieser Diskussion die Männerpunkten: Entschiedenheit, rationale Trennung der Elemente, Selbstbehauptung und Wettbewerbsstärke. Wo ihre Bilder auftreten, ertönt ein Gong, und alle schauen hin.Das ergriffene Antworten auf Ereignisse setzt Wachheit voraus und eine stupende Lebendigkeit. Es ist, als ob von Huene im Umkreis ihres zurückgezogenen Daseins zahllose Leben lebte.Es ist die Regel, dass kleine Bilder monumentaler sind als mittlere. Das Kleine lässt sich vergrößern, das Mittlere nicht. Das gilt hier in besonderem Maße: Diese Miniaturen sind Wandbilder. Man möchte sie in großen Räumen sehen, auch als Bühne. Welches Fest wäre eine von von Huene ausgestattete Oper in einem von ihr eingerichteten Opernhaus – wenn ihre Bilder nicht schon von selbst abstrakte Opern wären. Diese Bilder sind groß gedacht. Gleichzeitig sind sie kleinmeisterliche Juwelen, fleißig zur Vollkommenheit gehämmerte Kostbarkeiten – Werkstücke und nicht einfach Niederschriften. Ihre Handwerklichkeit zeigtsich schon in der Wichtigkeit von Material, Passepartout und Rahmung. Das Bedürfnis nach dem Beendeten, nach dem Anhalten des Zeitstroms, charakterisiert das Kleinmeisterliche wie das Monumentale. Es lässt die Musik zum Gegenstand gerinnen.
Man trifft zweierlei Kunstproduktion: Es gibt die einen, die sich von einem Inneren nach außen ausbreiten und gewissermaßen quellen. Für sie bedeutet Steigerung Überfließen. Es gibt die andern, die von außen her ein Sein nach innen treiben, den Stoff gewissermaßen „schmieden“. Für sie bedeutet Steigerung Veredelung, Verdichtung und Härtung. Frau von Huene ist von der zweiten Art. Darum ist der Buntstift, mitdem man durch zahllose kleine Striche eine Farbe zu immer stärkerem Feuer bringen kann, für sie ein so adäquates Mittel.
Solch immaterielle Materie führt unsere Assoziationen nach Osten, ins Russland des frühesten Kandinsky und der ihm gleichzeitigen Jahrhundertwende, ins Litauen Ciurlionis’, des ersten Abstrakten, der ebenfalls Musiklandschaften malte. Man möchte ihre frommen, aus ergriffener Vertiefung geborenen Bilder im Land der Ikonentradition sehen. Was ich oben „Ereignisse“ nannte, sind die Auslöser einer Fähigkeit, auf alles Entgegenkommende religiös zu reagieren.
Von Huenes Bilder haben ein Pathos der Aufführung, ein im guten Sinne Theatralisches. Die Formen treteneinzeln auf, treten an die Rampe wie Schauspieler, die etwas zu sagen haben. Alle Zeichen sind vereinzeltund überaus deutlich – wie Buchstaben einer Schrift. Sie wiederholen sich zu ablesbaren Rhythmen. Diesesind voneinander so unterschieden, dass sie alternieren und einander fugenhaft durchdringen können,ohne sich zu stören.
Der Vereinzelung der Zeichen steht ihre komplexe Vernetzung im Bildzusammenhang gegenüber. DieseDialektik, die Dialektik von Unmittelbarkeit und Vermittlung, ist die grundlegende Programmierung derHuene’schen Welt. Sie ist es, die sie zeitgenössisch macht, in eine Generation hineinstellt, die gar nicht mehrdie ihre ist. Vielleicht hat die spontane Zustimmung, die dieses Werk findet, damit zu tun, dass man dasfühlt.
Die klassische Moderne war analytisch, sortierte die Elemente auseinander. Sie war darum pluralistisch underzwang die jeweilige Entscheidung zwischen dem einen isolierten Element und dem anderen isoliertenElement. Die Gegenwart beginnt, synthetisch zu sein. Sie sucht das Zusammengesetzte und baut Weltenauf, in denen das Verschiedene gleichzeitig da ist und sich gegenseitig hält. Die Komplexität der Welt istaber nicht einfach vorauszusetzen, sie muss hergeleitet werden von jenem Nullpunkt der Trennung, den dieklassische Moderne geschaffen hat und der letztlich die Trennung von Mensch und Welt ist. Die Gegenwartgehört, so meine ich, Werken, die gleichzeitig analytisch und synthetisch sind. So ist das Werk von Huenes.Sie hat den einen Fuß im isolierten Einzelelement und den anderen im komplexen Weltenbau. Man siehtdessen schrittweise Entstehung, und man kann ihn auf seinen Nullpunkt zurückführen.
In diesem Werk lässt sich die Hierarchie der Formen auch als das Nacheinander ihres Auftretens ablesen. Das jeweils Kleinere ist eine Antwort auf das jeweils Größere, formuliert sich im Widerstreit: So mag ein Stachlig-Zentrifugales ein beruhigend einspinnendes Rundes anspannen. Der hierarchische Teilungsprozessist ein Prozess der jeweils neuen Herstellung des Gleichgewichts der Pole. Gegenüber den Fragen bestehen die Antworten trotzig auf sich selbst, so bleibt auf jeder Stufe der Einordnung das Einzelne mit dem Ganzen im Gleichgewicht und in ihm selbständig.
Das hierarchische System befriedet die Formen: So entsteht aus den starken Kontrasten nicht Dissonanz, sondern Zusammenklang, so ist dies nicht eine Welt des Leidens, sondern eine Erlösung.Das hierarchische System montiert Bereiche, zwischen denen, ohne das Ganze zu zerstören, ungeniert dieRaumvorstellungen gewechselt werden können: Es gibt die konsequente Flächigkeit im Gleichgewicht von Form und Zwischenraum etwa in ausgezackten Bändern, es gibt die Körperhaftigkeit schleifig-runder Formen,die die Zwischenräume wegdrücken, es gibt die statische Perspektive durch Überschneidung, es gibtquasi atmosphärische Tiefen durch die weiche Modulation von Flächen.Der Synkretismus der Räume ist auch die Zusammengesetztheit der Zeiten: Wir lesen die Formen in verschiedenen
Geschwindigkeiten ab. Wir kommen also zur Musik, zur Partitur zurück: zum abbrechendenPaukenschlag, zum trappenden Rhythmus, zum zentrierenden Trommeln, zur schleifenden Melodie.Komplexität bringt Figuration. Wenn man Gegenständlichkeit nicht von den Gegenständen, sondern von denFormen her definiert, ist sie nichts anderes als die Integration von Formen ineinander. Rot ist eine Eigenschaft.Ein Rot das lang, breit, erhaben und gemustert ist, ist eine Sache. Integration macht die Huene’sche Welt gegenständlich.Auch wo kein Gegenstand zu benennen ist, saugt sie sich mit Assoziationen voll.Das Zusammensein von juwelenhafter Leuchtkraft, von Vielfalt der Figuration und von monumentalem Aufbau gibt diesen kleinen Werken etwas seltsam Altmeisterliches, eine Verwandtschaft zu mittelalterlichenAltären. So sind sie, glaube ich, auch gemeint.Diese Bilder sind inspiriert, das heißt aus dem Unbewussten. Das Unbewusste zeigt sich oft transitorisch, widerstrebt der Gerinnung. Anders hier. Ein offensichtlich starker psychischer Druck will sofort in die gehärtete und monumentale Form. Eine Inspiration, die leicht und von selbst ins Endgültige findet, nennen die einen Genie, die anderen Naivität. Naives Genie, geniale Naivität – sicher ist, dass wir hier einem Vorgangder Verkörperung des Geistes aus der Nähe beiwohnen dürfen.
Ansprache zur Ausstellung „Irmela von Hoyningen-Huene“ am 26. April 2008
aus Anlass des 95. Geburtstags der Künstlerin
Liebe Frau von Huene,
wenn ich Ihnen meine Glückwünsche und meine Verehrung bringe, fühle ich mich als Bote von Vielen, die Sie verehren und Ihnen Gutes wollen.Sie sind eine Figur. Wenn ich ein Schriftsteller wäre, würde ich aus Ihrem Leben einen Roman machen. Das einzigartige Individuum ist ja nicht der Sonderling, sondern der Typus, die erfüllte Form, die ein Allgemeines sichtbar macht. Alles in Ihnen ist aus derselben Prägung: die Biografie, die Person, die Konzeptionund das einzelne Bild.
Der Künstler ist mehr als andere mit seiner Kindheit verbunden. Man kann sagen, Kunst sei verwandelte Kindheit. Das muss man innerhalb der außengeleiteten Illustrationen der Gegenwartskunst gelegentlichsagen. Sie haben aus dem Fels Ihrer puritanischen Herkunft die Quelle geschlagen, aus seinem harten Steindas Erz gewonnen für Ihre juwelenhaften Werke. Als Erbe des Huene’schen Stamms haben Sie die zentrale und übergreifende Eigenschaft: Charakter. Charakterist die dauerhafte Prägung, eine Deutlichkeit und Unterscheidbarkeit, die wenig Entwicklung zulässt. Charakter ist die Lesbarkeit (um einen Begriff Wölfflins anzuwenden) und damit die Einfachheit der Sprache,die Lesbarkeit ermöglicht. Ihr Zeichnen erinnert mich an Schreiben und daran, dass im Französischen caractère die Letter, den Druckbuchstaben, bedeutet. Charakter bedeutet Beharrung, Selbständigkeit und Begrenztheit nach außen.
Das zweite Erbe ist die Religiosität. Was immer Sie glauben mögen, Ihre Kunst ist eine religiöse Kunst inprotestantischer Ausprägung. Der Protestantismus sucht die Entmaterialisierung, das heißt die Musik.Nirgends Rubens, wohl aber Bach. Dass Sie statt der Gegenstände dieser Außenwelt die Musik als Gegenstandwählen, ist ein Akt der Entmaterialisierung. Der jubelnde Aufschwung zur Transzendenz, der uns an Barockkunst begeistert, wir finden ihn in Ihren Bildern wieder. Entmaterialisierung braucht Materie, sosind Sie nicht gegenstandslos, haben aber den Gegenstand mit der geringsten Stofflichkeit gewählt. Zu denTönen gehört als Medium der Entmaterialisierung das Licht. „Durch die Nacht, die mich umfangen, blinkt zu mir der Töne Licht“, singt Brentanos blinde Sängerin. Blindheit, das heißt Unsichtbarkeit des außen Vorhandenen, Dunkel und die Identität von Klang und Licht – das sind auch Ihre Elemente.
Licht braucht Dunkelheit, und diese bringt das Helle zum Leuchten. Ihre Striche können nicht dunkel genugsein. Sie gleichen den Bleistegen in Glasfenstern des Mittelalters, deren Leuchten Transzendenz und Erlösungsichtbar macht.
Sie sind inspiriert. Inspiration heißt, dass der Künstler nichts herstellt, sondern ein außerhalb seiner VerfügungVorhandenes empfängt. Inspiration ist eine Unfreiheit, die Befreiung ist. Der Künstler findet in der Inspirationseine wahre Realität. So stellen Sie nicht Musikstücke dar, Sie bilden nichts ab, Ihre Zeichnung ist das Musikstück.
Es gibt zwei gegeneinander polarisierende Arten von Inspiration. Es gibt die offene, die nicht anfängt un dnicht endet, in der der Künstler am Gängelband des Bildes, das immer unbeendet, immer fortsetzbar bleiben muss, schrittweise fortgezogen wird. Da ist der Weg das Ziel. Diesen Weg nenne ich Automatismus. Es gibt umgekehrt den Weg der Vision, in dem das Ganze auf einmal da ist und als bereits Vorhandenes ausgearbeitet werden muss, was dem Technischen einen Rang gibt.
Das ist Ihr Weg. Wir beide sitzen auf den entgegengesetzten Polen der Inspiration. Sie sorgen sich um Ihren Mangel an Professionalität. Das ist Unfug. Sie können vollkommen das, was Sie müssen. Es ist unsinnig, sich Routinen anzueignen, die man nicht ausübt. Alles an Ihnen ist Konzentration. Sie führen ein konzentriertes Leben. Ihre wie im Feuer gehärteten Werke sind Akte der Konzentration. Wir danken Ihnen für das, was Sie sind und was Sie machen.