Biografische Momente in den Bildern

 

Im Zug nach Rom

Als ich 1964 den Rompreis bekam, fuhr ich im Zug nach Rom. Meine Mutter reiste nie, sie blieb in Tübingen. Sie hörte zu, wenn wir bei den sogenannten Erzähltagen berichteten. Wenn einer in der Familie etwas erlebt hatte, gab es einen Erzähltag. Sie dachte sich hinein in die Fahrt im Zug nach Rom, in die Villa Massimo.  

 

Oper Echnaton

Die Oper von Philip Glass mit dem Bühnenbild von Achim Freyer wurde in Stuttgart 1988 im Opernhaus aufgeführt. Wir gingen mit meiner Mutter dreimal in diese Oper. Es entstanden mehrere Bilder davon. Wir waren alle sehr begeistert und der Meinung, dass es so etwas sonst nicht gibt.

 

Pletnev spielt Schumann

Ein Bild heißt: „Michael Pletnev, der große Pianist“ (Abb. 994). Meine Mutter war sich mit Dr. Osterwold einig, dass Pletnev ein überragender Pianist ist. Sie riefen sich gegenseitig an, wenn er spielte, denn beide wollten ihn hören. Osterwold spielt selbst Klavier.

 

Hören und Sehen sind eins

„Als wir in ihrem Wohnzimmer sitzen und ihre Bilder betrachten, fällt mein Blick auf eine gerahmte Fotografie des Poseidontempels von Paestum. Ich sage der Künstlerin, dass es mich eigenartig berührt, diese Abbildung hier vorzufinden. Kein Geringerer als Goethe hat ja über den Tempel gesagt, er vermeine Musik zu hören, wenn er diesen Tempel sehe. Und ein anderer, Hans Kayser, der über diesen wie auch die beiden anderen Tempel von Paestum gearbeitet hat, wies nach, dass diese Tempel gemäß musikalischer Gesetzmäßigkeiten gebaut wurden, und zwar jeder dieser drei Tempel nach harmonikalen Gesetzmäßigkeiten, dieder Zeit entsprechen, in der sie errichtet wurden. Dieser Hans Kayser hat den Begriff der Akroasis geprägt, das heißt Anhörung, will besagen: Die sichtbare Welt, die uns in Form (Maß und Proportion) wie auch Farbe entgegentritt, kann hörend vernommen werden. In den Arbeiten von Irmela von Hoyningen-Huene erscheint mir Akroasis verwirklicht.“ (Gerd Neisser, Eröffnungsrede anlässlich der Ausstellung von Irmela von Hoyningen-Huene in der Galerie)

 

Zeitlupe, Heidenheim, 1988

 Das Architektenpaar Herkommer hat uns auf die Beziehung ihrer Bilder zur Arbeit des „Hörprofessors“ und Musikjournalisten Joachim Ernst Berendt hingewiesen. Obwohl sie nicht voneinander wussten, hatten sie den gleichen Ansatz. Einige Titel Berendts: „Chöre der Welt“, „Musik der Planeten, Wale und Bäume …“, „Nada Brahma – die Welt ist Klang“, „Das dritte Ohr. Vom Hören der Welt“. Oder: „Es gibt keinen Weg – nur gehen“.

 

Hans Küng

In einem pietistischen Elternhaus, in dem meine Mutter aufgewachsen war und in das wir später wieder einzogen, also zu den Großeltern nach Tübingen in die Zeppelinstraße, spielte der Name Hans Küng natürlich schon bei seinen Anfängen eine große Rolle. Im pietistischen, kulturbewussten, universitätsbezogenen Elternhaus ging man also donnerstags zum „Dies“. Meine Mutter besuchte sogar Küngs Vorlesungen. Ein Bild heißt „Letzte Vorlesung von H. Küng“.

 

Vor mehreren Jahren gab es einen Vortragszyklus von Küng im Kupferbau in Tübingen, zu dem sie mit einer Freundin des Hauses regelmäßig ging und mich animierte mitzukommen. Es ging um Schöpfung. Vorne in der ersten Bank, direkt vor ihm, saßen stets Walter und Inge Jens. Er gab beiden immer die Hand zum Gruß. Es wurde ihm eine Zeichnung meiner Mutter mit dem Titel „Weltethos“ gebracht (Abb. 916). Zum Dank bekam sie Bücher von ihm. Später habe ich meiner Mutter aus seinen Büchern vorgelesen. So über Mozart, der meine Mutter auch begeisterte. Ökumene und Weltethos – das waren auch Themen meiner Mutter.

 

Gutenacht-Geschichten

Viele Male sind mein Mann und ich nach Tübingen gefahren, wir haben meine Mutter abgeholt und sind auf den Platz hinter der Stiftskirche geeilt, um bei dem riesigen Andrang der Menschen dort noch einen Platz zu finden. Natürlich mit Polster zum Sitzen und Vesper zum Durchhalten, denn sie dauern lange, die Gutenacht-Geschichten. Manchmal fanden sie auch im großen Saal oben im Schlachthof statt. Immer übervoll. Meine Mutter wollte keine Tübinger Gutenacht-Geschichte auslassen, und wir sind immer mitgegangen. Das Bild, das dazu entstanden ist, haben wir erst kürzlich entdeckt (Abb. 913).

 

Ohne Titel, 1980er Jahre

 

Dizzy Krisch

Lange schon, ehe wir ihn kannten, hatte meine Mutter immer wieder von Dizzy Krisch gesprochen. Bis er dann zum ersten Mal in der Kulturhalle spielte – bei einer Ausstellung von ihr. Ab da gehörte er zu allen ihren Eröffnungen. Für meine Mutter scheint es sehr wichtig gewesen zu sein, dass der Interpret auswendig spielt. Nach dem Blatt spielen lehnte sie ab. In Dizzy Krisch hatte sich ihre Vorstellung vom Musikspielen realisiert. Sie hatte den gefunden, der keine Noten braucht und improvisiert. Nicht nur das, mehr: der Gesehenes in Gehörtes transformiert. Was ich nie vergessen werde: Es war bei der Feier ihres 95. Geburtstags in der Kulturhalle Tübingen, als sie bereits im Rollstuhl saß. Dizzy Krisch hatte gespielt, alle Reden waren gehalten, sie hatte alle begrü.t und war wieder in das für ihren Transport verwendete Auto meines Bruders gesetzt worden. Gerade sollte die Autotür geschlossen werden, als Dizzy Krisch, der sich auch im Freien befand, um die Ecke in den Hof kam und sah, dass meine Mutter „im Abtransport“ war. Mit den Armen gestikulierend rannte er herbei und schrie laut „Halt! Halt!“, um sich wenigstens noch verabschieden zu können. Seitdem besuchte er meine Mutter zum Tee in ihrer Wohnung, um immer die neuesten Bilder zu sehen.

 

Dalai Lama

Sie hatte Bücher von ihm. Sie las Bücher von ihm. Später lasen wir sie ihr vor. Sie hatte Kassetten mit Gesprochenem von ihm und verehrte ihn und Tibet, den Lamaismus und das Tibetanische Totenbuch. Eine Begebenheit, die zum Höhepunkt ihrer Beschäftigung mit dem Dalai Lama wurde, vergaß sie nie: Der Dalai Lama wurde nach Tübingen eingeladen. Er sollte von der Universität Tübingen die Ehrendoktorwürde erhalten. Im Festsaal der Universität. Meine Mutter ging in großer Erwartung mit ihrem Enkel Alexander, den sie wie ihr viertes Kind aufgezogen hatte, zu der Veranstaltung. Am Ende des Ereignisses, als der Dalai Lama im Begriff war, langsam zum Ausgang des Saales zu gehen, wie dies auch meine Mutter mit ihrem Enkel tat, ergriff sie die Gelegenheit und reichte dem Dalai Lama die Hand, die er nahm und drückte, wobei er sie anblickte. Sie muss tief beeindruckt gewesen sein.

 

Hermann Hesse

Nach den Erzählungen meiner Mutter müssen die Lawtons, die Familie ihrer Mutter, die Hesses öfters in Calw besucht haben. Ob der blinde Charles Lawton dabei war, ist unsicher. Sicher ist, dass Hermann Hesse mit den Söhnen Willi und Walter Lawton in Tübingen eine Art Spiel gemacht hat. Meine Mutter sprach von einem Versteckspiel in der ganzen Stadt, vielleicht war es eine Art Bannemann. Ihre Mutter war eng mit Marulla Hesse, Hermanns Schwester, befreundet. Marulla muss wohl nach Tübingen zu meiner Großmutter gekommen sein. Bei den Erzählungen meiner Mutter wurde immer deutlich, wie sehr die Familie unter dem heftigen, nicht zähmbaren Hermann gelitten hat. Bei jeder Andeutung von mir zu H. Hesse war das erste Wort meiner Mutter stets: „Der Lausbub!“ Sie hatte schließlich nie etwas anderes gehört, als dass ihn seine arme Mutter überall wieder abholen musste und dass die Familie aufatmete, als sie ihn zu Johann Christoph Blumhardt nach Bad Boll gebracht hatte und hoffen konnte, dass dieser einen guten Einfluss auf ihn haben würde. Doch auch da kam bald die Nachricht, dass er den großen Blumhardt so sehr gegen sich aufgebracht hatte, dass der ihn kurzerhand rausschmiss – mit der Empfehlung, ihn in die Nervenheilanstalt Stetten zu geben.

 

Orgelspiel in der Stiftskirche – Soergel

Mutter ist viel zu Konzerten in die Stiftskirche gegangen, so auch zur Orgelmusik mit Gero Soergel, einem Wahlverwandten von uns. Mit Gero Soergel und seiner Frau fanden häufig Treffen bei ihr statt. Abwechselnd brachte einer den Kuchen mit und man setzte sich zum gemütlichen Teetrinken zusammen. Nach einem kurzen Austausch über die jeweilige Familiensituation wurde mit der Betrachtung der Bilder begonnen, die ich zuvor zum Anschauen aufgestellt hatte. Die Teestunde war von jeher in der Familie meiner Mutter eine wichtige Mahlzeit und ist dies bis heute bei uns so geblieben. Man kommt zum Tee zusammen, es ist die einzige Mahlzeit, zu der man Leute einlädt. Kurzum, mit Soergels kam es nach und nach zu tiefgreifenden Gesprächen über die Bilder religiösen und philosophischen Inhalts. Was teilt dieses Bild mit? Die Zeichnung „Entwicklung der Schöpfung“ (Abb. 896) hielt uns alleine einen ganzen Nachmittag fest. Gibt es eine Entwicklung in der Schöpfung?

 

Entwicklung der Schöpfung

Dieses Bild hat meine Mutter mit Gero Soergel und seiner Frau stundenlang in Atem gehalten. Ist die Schöpfung eine langsame, jahrhundertelange Entwicklung? Bis heute? In der wir uns weiter entwickeln? Ist sie mit einem Knall entstanden? Wodurch ist sie entstanden?

 

 

Fredi Röcker

Fredi Röcker, der Jazzmusiker, bei allen, die ab 1954 an der Kunstakademie Stuttgart studierten, bekannt wie ein bunter Hund. Allen in Erinnerung sind die berühmten Akademiefeste – denkbar nur mit den  Halleluljaramblers: Fredi Röcker, Friedrich Meckseper und Schmid-Öhm. Bald trat die Band als Royalgarden Ramblers in der amerikanischen Partnerstadt St. Lewis auf, die Stadt Stuttgart hatte sie dort hingeschickt.

 

Fredi Röcker wurde Ehrenbürger der Stadt New Orleans. Nach vielen Jahren fanden wir uns plötzlich als nahe Nachbarn in Stuttgart-Vaihingen wieder – und da begann etwas ganz Neues. Meine Mutter! Meine Mutter zeigte immer mehr Interesse an der Band und an Fredi Röcker, und so ging sie, mit uns im Schlepptau, zu all seinen Auftritten in der Dixilandhall in der Marienstraße in Stuttgart. Da sie bis zum Schluss bleiben wollte, gab es nach der Hall regelmäßige Nachtfahrten nach Tübingen zurück. Nicht nur wir gingen mit, auch der Stuttgarter Galerist Folkmar von Kolczynski, ebenso Christel Fischer, die das Rahmengeschäft Kunsthaus Fischinger Stuttgart führte. Wir waren eine Fangruppe. Zwischen beiden Familien entwickelte sich eine bis heute andauernde Freundschaft. Als die Musikbücherei Stuttgart für Fredi Röcker eine Ausstellung veranstaltete, wählte er dazu Meckseper und von Hoyningen-Huene. Bei zwei Finissagen meiner Mutter spielte die Good Time Company. Es entstanden viele Bilder zu dieser Musik.

 

 

Die Zeichnung „Beten um die Gnade Gottes“ (2009)

 

2007 erlitt meine Mutter einen Oberschenkelhalsbruch! Bis dahin war es in warmen Monaten üblich gewesen, dass ich sie, wenn sie nicht zeichnete, mit dem Auto nach Stuttgart holte und wir in unserem Garten Tischtennis spielten. Nicht nur eine halbe Stunde, sondern mehrere Stunden, sehr intensiv. Wir sprachen nicht dabei, wir konzentrierten uns auf das Spiel. Sie war sehr gut darin. Auch die Freunde des Hauses spielten mit ihr. Natürlich erst nach dem Tee im Garten. Dann kam 2007 der Einbruch.

 

 

Exkurs: ein Rückblick

 

Nach der Heirat mit meinem Vater hatte meine Mutter bald drei Kinder. Mein Vater wurde eingezogen in den Krieg, kam nur zu Urlauben nach Hause. Als dann die Nachricht kam, dass er in Stalingrad gefallen war, musste meine Mutter, wie viele Witwen, mit drei kleinen Kindern alleine weitermachen. Jede Nacht ging es in den Luftschutzkeller. Wir wohnten damals in Stuttgart-Sonnenberg. Bald wurden wir auf die Alb evakuiert, nach Gomadingen. Wir lebten beengt in zwei gemieteten Zimmern, doch es genügte uns, wir waren zu viert und immer zusammen. Es zeigte sich immer stärker, dass wir uns mit meiner Mutter zu einer Überlebensgruppe entwickelten, die nur auf diese Weise: zusammen gut weiterleben konnte. Wir hatten kaum Geld, es war Krieg, nachts vom Bombenalarm geweckt, ging es in den Trainingsanzug, Puppe auf den Arm, über die Straße zum Pfarrhaus in den Luftschutzkeller.

 

Wir hatten nie Angst, alles war schön, wir hatten ja uns. Mein Mutter konnte trotz Verzicht auf alles mit uns und für uns eine heile paradiesische Welt aufbauen. Wir waren glücklich. Von Schlimmem wussten wir nichts, Streit zwischen Menschen hatten wir nicht erlebt. Niemand konnte in unsere Gruppe eindringen. In der Adventszeit fertigten wir wochenlang, hinter Bilderbüchern, Weihnachtsarbeiten selbst an. Die Spannung und Vorfreude, bis dann das von meiner Mutter mit Inbrunst hergerichtete Weihnachtszimmer geöffnet wurde, hat sich für uns eigentlich bis heute erhalten. Zu dritt hatten wir zuvor lange ein Krippenspiel für unsere Mutter eingeübt, wir spielten Puppenstube im Weihnachtszimmer und wenn es klingelte, machten wir nicht auf. Ich möchte sagen, dass die wirkliche Freude, die wir damals erlebt haben, uns das ganze weitere Leben geholfen hat zu leben.

 

Als wir nach Tübingen in das Elternhaus meiner Mutter zogen, nach Tübingen in die „Villa Baltica“, kam es zu Veränderungen. Meine Mutter begann eine Partnerschaft mit dem Bildhauer Wilhelm Baron von Rechenberg, der bald unser Vormund und ein Zuwachs für uns wurde. Die Gemeinschaft mit ihm bot meiner Mutter künstlerische Anregung, er ermunterte sie zu malen. Er war in der Künstlergruppe Ellipse, zu deren Treffen meine Mutter nun auch ging. Als nach den schönen Jahren von Rechenberg herzkrank wurde, pflegte sie ihn bis zu seinem Tode. Kurz darauf kam der zweijährige Enkel Alexander zu ihr, den sie bis zu seinem 19. Lebensjahr aufzog.

 

Meine Mutter erholte sich 2008 wieder und kehrte in ihre Wohnung zurück. Sie konnte wieder gehen, musste aber trotzdem kräftehalber den Rollstuhl zur Fortbewegung benutzen, mit dem sie durch alle Räume fahren konnte, alleine.

 

Und da geschah ohne jede Absprache das Merkwürdige: Die einstige Überlebensgruppe trat wie selbstverständlich wieder auf dem Plan, zu jedem Einsatz bereit. Mein Bruder und ich haben Familie in Stuttgart, waren deshalb gebunden, Meine Schwester Helga Bülow konnte es jedoch so einrichten, dass sie ihren Wohnsitz in der Wohnung meiner Mutter aufschlug. Mein Bruder Fritz-Hartmut Röck und ich waren abrufbar, oft auch wochenlang, um meine Schwester zu entlasten. Es ging wieder ums Überleben, dieses Mal um das Überleben meiner Mutter. Nur umgekehrt, meine Mutter versorgte nicht mehr uns, sondern wir sie. Es begannen wunderschöne Jahre mit ihr. Um sie herum waren wir wieder zu viert. Wir versuchten, ihr ein Leben in ihrer gewohnten Umgebung zu gestalten, damit sie ohne Angst und Sorge um die Alterssituation und um ihr eigenes Ableben zeichnen konnte und sich im Kreise ihrer Familie wohlfühlen konnte. Zum ers ten Mal in ihrem Leben brauchte sie sich um nichts zu kümmern, allen äußerlichen Pflichten, die sie zeitlebens betrieben hatte, Haushalt, Kochen, Putzen, Einkaufen, war sie enthoben. Sie durfte endlich loslassen und sich ihren Gedanken und Vorstellungen, ihren Büchern und Zeichnungen hingeben. Aber sie zeichnete nicht. Mein Bruder ließ sie am Schreibtisch sitzen und gab ihr den Bleistift in die Hand, es ereignete sich nichts. Es schien, als ob sie vergessen hätte, was man damit machen kann. Lange Zeit verging – nichts. Plötzlich, nach langem, ein Anruf meiner Schwester: Die Mutter hat eine Zeichnung gemacht und den Titel darauf geschrieben: „Beten um die Gnade Gottes 2009”

 

 

 

Die Mutter war nie ein Mensch von großen Reden und Erklärungen, sie blieb also in der Stille und wartete, bis etwas reif wurde und sie die Notwendigkeit spürte, sich auszudrücken. Die Zeichnung zeigt, dass sie eine wichtige Entwicklung durchgemacht hatte. Sie schien etwas Neues ausdrücken zu wollen. Ab diesem Tag hatte sie in ihren festen Tagesrhythmus das Zeichnen wieder eingebaut. Es war der Anfang einer ganz neuen Phase: das „Spätwerk“ oder „Alterswerk“. Die Musik spielte keine wirkliche Rolle mehr.

 

Da bei uns immer viel diskutiert wird, nahm sie immer an allem teil, wenn auch eher passiv. Eigentlich war das immer so. Es war die Zeit der Vogelgrippe. Tage später hieß eine neue Zeichnung: „Vögel der Lüfte sicherer als am Boden der Erde“ (Abb. 1040). Es wurde diskutiert über Politik und das Wählen. Tage danach entstand die Zeichnung: „Die Wahl!“ (Abb. 1083). Wir besprachen weitere Berufsmöglichkeiten einer Tochter. Dem folgte das Bild: „Diskussion u. Möglichkeit zum Erfolg“ (Abb. 1037). Das war ihr Denken zu den Diskussionen. Brasilianische Wissenschaftler kamen und freuten sich, die letzte lebende Tochter des berühmten Wirbeltierpaläontologen zu treffen, der 1928 in Brasilien Ausgrabungen durchgeführt hatte. Es muss ein erregendes Zusammensein gewesen sein. Tage später entstehen zwei Zeichnungen mit dem Titel: „In Erinnerung der Ausgrabung meines Vaters 1928/29 in Brasilien“ (Abb. 1125).

 

Da meine Mutter also nie große Reden führte, vor allem nicht über sich, schon gar nicht über ihr Innenleben, haben wir durch ihre Titel zu ihrem ganzen Werk, so auch zum Spätwerk, und nur durch diese, einen Zugang zu ihren Gedanken, ja zu ihrer ganzen Persönlichkeit. Sie wollte immer gleich den Titel unter die Zeichnungen schreiben. In letzter Zeit habe ich mich gefragt, an was ich am meisten hänge. Die Antwort muss lauten: an ihren Titeln – da bin ich ihr am nächsten. Sie konnte sich in den letzten schönen Jahren, die wir mit ihr erleben durften, zu einem in sich ruhenden, mit sich im Reinen befindlichen Menschen entwickeln, der in einer tiefen Geborgenheit lebte, ohne Angst, ohne Besorgnis. Sie schien sich mit dem Thema Diesseits – Jenseits sehr zu beschäftigen – ohne Angst. Je reduzierter ihr Leben war, je größer wurde das Innenleben. Vor allem in den letzten Jahren. Sie verließ das Haus nur noch zu den beiden Eröffnungen im Landratsamt und in der Bonhoeffer-Kirche, umso mehr kamen die Freunde ins Haus. Das Wohnzimmer, in dem ihre Bilder an der Wand hängen – mit dem Schreibtisch, an dem sie zeichnete, dem Sessel, in dem sie immer saß, dem Teetisch, der Sofaecke –, wurde immer mehr zu einem Kraftzentrum, von dem eine große Ausstrahlung ausging – für uns und für alle, die bis zum letzten Tag zu ihr kamen, bis zur letzten Zeichnung, zwei Tage vor ihrem Tod: die „letzte Zeichnung