Die Zeichnerin Irmela von Hoyningen-Huene kam, bedingt durch familiäre und zeitgeschichtliche Umstände, erst ab 1953, im Alter von etwa 40 Jahren, zum künstlerischen Arbeiten. Die frühesten Werke, die im Werkverzeichnis erfasst wurden, sind Ölbilder, Stillleben mit Vasen und Krügen, die pastos und mit sichtbarem Pinselduktus auf Malpappen und Hartfaserplatten gemalt wurden. Sie scheinen ohne Vorzeichnung, spontan, mit relativ breitem Borstenpinsel gefertigt worden zu sein. Vom Format her sind sie etwa 30 auf40 cm, das heißt größer als alle, die sie später geschaffen hat, es sind meist Querformate, die – wie sie selbstsagte – entstanden, wenn sie Zeit dazu hatte.
Irmela von Hoyningen-Huene lebte damals, nachdem ihr Mann 1943 bei Stalingrad gefallen war, mit ihren drei heranwachsenden Kindern sehr eingeschränkt in einer kleinen Dachwohnung des Elternhauses „Villa Baltica“ in Tübingen, sie malte im Wohnzimmer auf dem Tisch oder am Schreibtisch, was sie bis zu ihrem Tod 2012 nicht ändern sollte.
Der Stil der ersten Bilder ist flächig abstrahiert in einer an Kubismus und Expressionismus erinnernden Formsprache, in mystisch dunklen Farbstimmungen, in einer breiten Palette von Farbklängen, Farbharmonien und Farbkontrasten. Wie im Expressionismus sind die Objekte durch Rhythmus, Schwingung, Pinselduktus in den Hintergrund eingebunden. Die Malweise ist spontan, impulsiv. Die Gegenstände füllen den Bildraum völlig aus und vermeiden jeglichen Eindruck räumlicher Tiefe (siehe zum Beispiel Abb. 2 und 22).Im Juni 1955 entstehen die ersten abstrakten Arbeiten, Pastellstiftzeichnungen, in denen der Bildraum als Raum einer Bildbühne erscheint. Die Künstlerin erprobt hier Möglichkeiten des linearen Ausdrucks (Abb.46). Im einem der Bilder aus dieser Zeit entfaltet sich die abstrahierte, ausdrucksstarke Vision einer Sonne am Meerhorizont in glühenden rot-gelben Farben zu kontrastierenden Blautönen (Abb. 33). Eine nächtliche Stadtsilhouette, mit deckenden Wasserfarben auf Papier gemalt, ist ein Beispiel in dieser Frühphase für die symbolische Überhöhung in einer weiteren Technik (Abb. 70). All diesen Arbeiten gemeinsam sind der von Anfang an hohe Abstraktionsgrad, der farbige Ausdruck und eine Betonung der in die Bildfläche eingebundenen Ausdruckgeste. Sie alle verbindet auch eine erstaunliche Sicherheit, Fertigkeit, ja Souveränität von Beginn an.
Die sechziger Jahre
Mit der Entdeckung der farbigen Pastellkreiden endet die erste Werkgruppe der auf Platten gemalten Ölbilder. Irmela von Hoyningen-Huene entscheidet sich nun für das Zeichnen mit Bleistift und Farbstift. Sie wählt das kleine Format, das selten die Maße von 16,5 auf 24 cm überschreitet. Aus ihren räumlich und finanziell beschränkten Verhältnissen macht sie eine Tugend, eine Anpassung des Formats und des Aufwands an die gegebenen Umstände. So wird die vom Schicksal gegebene Situation nicht zur Behinderung oder gar Verhinderung, sondern vielmehr zu einer Konzentration, die in der Beschränkung zur Meisterschaft führt. Ihr zweiter Lebensgefährte, der Bildhauer Wilhelm Baron von Rechenberg, der nach dem Krieg in ihr Leben getreten ist, bestärkt sie in ihren künstlerischen Neigungen. Ihr Schaffen wird zu dieser Zeit aber selbst in ihrer nächsten Umgebung kaum wahrgenommen und geschieht ohne Aufhebens, fast im Verborgenen.
Eine erstaunliche Werkgruppe dieser Phase von 1966, die erst jetzt bei der Recherche für das Werkverzeichnis entdeckten 30 Zeichnungen mit Pitt-Kreide, zeigt in harten Schwarz-Weiß-Kontrasten Abstraktionen, die in verblüffender Meisterschaft wie in einem Schaffensrausch entstanden zu sein scheinen (Abb. 83). Wenndie Künstlerin später formulieren sollte: „Musik sprengt die Fesseln“, ist es hier schon viel früher der künstlerische Schaffensprozess selbst, der sie mitreißt, das Zeichnen als solches, das alle Fesseln sprengen will. Es sind nicht nur die Fesseln der bildnerischen Konventionen, sondern auch, wie aus Gesprächen hervorgeht, jene der Konventionen des Elternhauses, der Erziehung, der bürgerlichen Umgebung, das Trauma der NSZeit und des Krieges, ihre Fesselung an das Schicksal einer Kriegerwitwe.
Etwa zu dieser Zeit greift die Künstlerin zum Bleistift und zeichnet auf noch kleineren Formaten abstrakte, malerische Visionen, die wie nächtliche Stimmungsbilder wirken (Abb. 522). Zum ersten Mal treten jetzt auch jene Farbstiftzeichnungen auf, die bis wenige Jahre vor ihrem Tod neben Schwarz-Weiß-Zeichnungen das Hauptwerk der folgenden drei Jahrzehnte bestimmen werden. Daneben entstehen in Aquarell- und Deckfarbentechnik weitere Arbeiten. Bis in diese Zeit werden die Bilder selten datiert oder signiert und haben keine Titel.
Ohne Titel, um 1950
Ohne Titel, um 1966
Ihre oft wiederholte Aussage: „Ein Bild ist fertig, wenn es klingt“ hat von Anfang an ihre Gültigkeit. Alles„klingt“: die Farbe, die Form, der Umriss, aber auch die Nacht, die Komposition, die Natur etc. Kein Wunder,dass die Künstlerin um 1980 Musik und Tanz sowie ihre Interpreten und Darsteller als Anreger und Auslöser für ihre eigenen Bildkompositionen entdeckt. Die Bedeutung des Klangs für alle späteren Werke geht jedoch weit über das Musikalische hinaus. Der gezeichnete Klang ist der Schlüssel zum Verständnis und Erleben der Bilder, weil Klang auch das Zauberwort ist, das die Schöpfung erklärt und zusammenhält. So „klingen“ Weltall und Hans Küngs „Weltethos“ zusammen mit der Verleihung des Nobelpreises an den Dalai Lama, „klingt“ die Stimmgewalt Jessye Normans zusammen mit Blüten (Abb. 162). Die Grundhaltung der Künstlerin ist positiv gestimmt, es ist ein Lobgesang, eine Beschwörung der Leben befördernden Kräfte.
Die siebziger Jahre
In den Landschafts- und Stilllebenmotiven setzen sich die Tendenzen zu Abstraktion und Geometrisierung fort. Die Gegenstände werden mit ihren Umgebungen regelrecht verwoben, was eine bildnerische Nähe zum Kubismus der „klassischen Moderne“ erzeugt. Wichtig und folgenreich ist die kleine Bleistiftzeichnung von 1978 mit dem Titel „Klangraum“ (Abb. 1225). Ihren Mittelpunkt bestimmt ein kreisrundes Zentrum, von dem alles auszugehen scheint. Ein Sphärengewölbe aus sich kreuzenden Bögen schafft eine Gewölbearchitektur. Darunter stellen perspektivisch näherliegende Strukturen den Vordergrund dar, eine Bühnenlandschaft. ist Geflecht: der Raum, die Architektur, der Klang der gezeichneten Musik, der Architektur und Musik gewordene Kosmos. In zahllosen Bildern der achtziger und der neunziger Jahre wird dann dieser Kosmos weiter differenziert, farbig orchestriert und vervollkommnet zum „Hören mit dem Bleistift“.
Die achtziger und neunziger Jahre
Ab Mitte der achtziger Jahre bestimmen vorwiegend musikalische Erlebnisse die Arbeiten Irmela von Hoyningen-Huenes und bewirken sowohl qualitativ als auch quantitativ Schübe für die weitere Entwicklung (Abb. 344, 428). Besonders in den Bleistiftzeichnungen werden eruptive Kräfte sichtbar. Die Künstlerin hört live Jazz in der Stuttgarter Dixieland Hall und befreundet sich mit dem Jazzer Fredi Röcker (Abb. 441). Sie besucht in Tübingen Konzerte klassischer Musik, hört über neue Medien Musik aus aller Welt, erlebt unter anderem die Aufführung der Oper „Echnaton“ mit der Musik von Philip Glass (Abb. 442). Sie begeistert sich für irischen Volkstanz (Abb. 812): Im Liniengeflecht des Aufführungsraums verbinden sich Tänzer und Zuschauer zum ganzheitlichen Erlebnis von Gesehenem und Gehörtem in Rhythmus, Bewegung und Klang, zu einer Partitur des Gesamtkunstwerks in einem audio-visuellen Verschmelzungsprozess.
In der Zeichnung „Phönix erhebt sich unter irdischen Klängen“ ist bereits der Höhepunkt künstlerischer Formulierung erreicht (Abb. 450). Phönix steht hier auch für die Auferstehung der Künstlerin, ihre Befreiung, Neuerfindung im fortgeschrittenen Alter. In diese Zeit fällt ihre schrittweise Anerkennung als frei schaffende Künstlerin durch befreundete Kollegen der Stuttgarter Kunstszene. Einen besonderen Anteil an dieser Entdeckung haben der damalige Leiter des Württembergischen Kunstvereins, Dr. Tilman Osterwold, und der Galerist Folkmar von Kolczynski aus Stuttgart.
Wie in den Jahren zuvor nimmt die Bildproduktion seit den neunziger Jahren noch einmal zu. Vorherrschend bleiben die von musikalischen Erlebnissen angeregten Bilder wie „Jazz“ von 1991 (Abb. 848) oder „Jazz im Sommer“, eine Bleistiftzeichnung von 1994 (Abb. 744), ein „Klassiker“ unter den Arbeiten jener Zeit, in der aus verdichteten abstrakten Strukturen eine musikalische Pflanzenwelt aufwächst. In „Jazz mit Tanz“ von1990 (Abb. 756) kommen zur Musik Tänzer, wie schon bei den irischen Volkstänzen. „Jessye Norman singt“, eine Bleistiftzeichnung von 1990 aus der Gruppe, in der die Künstlerin der großen Sängerin huldigt (Abb.807), gleicht einer Eruption. In „Schlagzeug u. Saxophon“ von 1999 (Abb. 821) wird die Begeisterung der 86-Jährigen für Rhythmus, Tanz, Bewegung, Vielschichtigkeit des Hörerlebnisses und dessen Transformation in bildnerischen Ausdruck, der sich abstrakter, zeichnerischer Mittel bedient, deutlich. Die Linien auf hellem Grund sind eingebettet in hellgraue Umgebungen, wie sie durch Verwischungen von Grafit entstehen. Das nachträgliche Radieren mit dem Gummi erzeugt Wirkungen, die auch in den farbigen Arbeiten als eine Tendenz zum Malerischen hin gelesen werden können. Frau von Hoyningen-Huene hört und malt hier nicht nur mit dem Bleistift, sondern malt auch mit dem Radierer. So ist auch „Musik aus Bolivien“ von 1995 (Abb. 840) bildnerisch gesehen die Verschmelzung von Zeichnung und Malerei, die sich eines Spektrums von dunklem Blau über Grün, kontrastierendem Rot über Orange bis zu hellem Gelb bedient. Der Dialog Erde-Himmel kommt beispielhaft im Bild „Dank Musik klingt überm Land“ von 1992 (Abb. 846) zum Ausdruck. Auf dem glatten festen Papiergrund werden durch Wisch- und Radiertechnik feinste Pastelltöne für den Hintergrund erzeugt. Konturen, die im Erdenraum noch die Farbfelder umschließen, verschwinden dort fast gänzlich.
Ab 2000
In der Zeichnung „Eindrucksvolles Klavier Konzert M. Pletnev“ von 2001 (Abb. 966) betont die Künstlerin den abstrakten Partitur-Charakter ohne jegliche gegenständliche Anspielung. In „Freude des Klangs“, einer Farbstiftzeichnung von 2003 (Abb. 943), wird die Freude durch helle Farbtöne und durch eine Lockerung der Umrisslinien ausgedrückt. Irmela von Hoyningen-Huene ist nun über 90 Jahre alt und löst sich offenbar mehr und mehr von Zwängen und irdischen Problemen. „Alles ist Musik“ von 2010 (Abb. 1084) zeigt exemplarisch den Stil der letzten Jahre. Die Künstlerin hat sich von Farbe, Gegenständlichkeit, aufwändiger plastischer Durchformung endgültig losgesagt. Sie zeichnet jetzt mit Linien Visionen, in denen sie sich dem Göttlichen anzunähern versucht. Ihre physische Kraft im Alter von 97 Jahren reicht noch für einfache zeichnerische Entwürfe, die auf Jenseitiges gerichtet sind. Ihr Zeichnen endet erst wenige Tage vor ihrem Tod am 26. Mai 2012. Es ist der Dialog, den sie im Jenseits fortzusetzen gedenkt: „Nach Tod: Diskussion ohne Probleme u. Krankheit“.
Die Seherin – ein Blick in die Kristallkugel
Irmela von Hoyningen-Huenes Leben umfasst ein ganzes Jahrhundert. Geboren im Deutschen Kaiserreich als eine von fünf Töchtern des weltberühmten Wirbeltierpaläontologen Friedrich Baron von Hoyningen-Huene, erlebte und überlebte sie die Verwerfungen von vier deutschen Staaten – im Besonderen die Katastrophe und den Untergang des „Dritten Reiches“. Die Familie, aus der sie stammt, verlor nicht nur die vererbten Privilegien. Auch die bürgerliche Existenz wurde durch den Verlust ihres Mannes als Offizier im Krieg in Frage gestellt.
In der zweiten Hälfte ihres Lebens gelang ihr jedoch ein eigener, eigensinniger und eigenwilliger Weg, ihr Schicksal zu meistern. Ihre künstlerischen Begabungen und Interessen führten sie, wie an einem Ariadnefaden, aus dem Labyrinth der durch Schicksalsschläge hervorgerufenen Brüche ihrer Zeit in eine Position als frei schaffende „bildende Künstlerin“, in deren Werk sich wie in einer Kristallkugel alles spiegelt, was Herkommen und Kultur, Politik und Schicksal, Niedergang und Wiederaufstieg für sie bereitgestellt hatten. Als Mutter von drei Kindern behauptete sie in aller Stille und Bescheidenheit die Deutungsvollmacht ihrer Überlebensgemeinschaft und es gelang ihr, ein Kraftzentrum zu bilden, aus dem heraus ihr künstlerisches Lebenswerk entstehen konnte. In diesem spiegelt sich und findet sich alles zusammen, was widersprüchlich und unvereinbar zu sein schien: Tradition und Moderne, Glaube und Rebellion, Abstraktion und neue Figuration, Zurückgezogenheit und Weltoffenheit. Alles durchlief einen Verschmelzungsprozess – ihre Strategie des Überlebens. Als Künstlerin und geistiger Mensch reiste sie in innere Welten und fand in ihrem Kosmos aus den Ungereimtheiten ihrer Zeit eigene Wege der Interpretationen der Welt, Wege, die als Heilswege verstanden werden können. Ihre Arbeiten sind lesbar als bildhafte Partituren – nicht allein der Musik,die sie hörte. Ihre Visionen entstammen einem „blinden Sehen“, einem Sichtbarmachen von Innerem, Gehörtem, Geglaubtem, sind Phänomene ganzheitlichen Erlebens. Sie sind weder Abbilder des Gehörten noch des Gesehenen, sondern autonome Strukturen, die aus dem Unbekannten als eine Art Tomografie geistiger Prozesse aufsteigen.
Dr. Tilman Osterwold sagte einmal: „Das sind gar keine Zeichnungen“ – was sind sie dann? Von Hoyningen-Huene schöpfte aus dem unerschöpflichen Fundus abendländischer Kultur und christlichen Glaubens, deren Wurzeln die verheerenden Katastrophen des 20. Jahrhunderts überlebt hatten. Ihr Werk steigt wie Phönix aus der Asche ihrer Zeit. Ihre Bilder, zusammen mit den schriftlichen Hinweisen, die sie als Titel hinzufügte, sind Wegzeichen, die ihr und den Betrachtern wie Zaubersprüche sind, wegweisende Orakel in einer Welt der Moderne, welcher der Sinn des Daseins abhandengekommen zu sein scheint. Aus der Künstlerin ist eine mutige, weise Seherin geworden, die, ihren eigenen Weg bahnend, auch Anderen, Gleichgesinnten, Wege eröffnet. Ihre Werke sind kleine kostbare Welten, in denen das Licht, der Kosmos, das Ganze,wie in einem Brennglas zusammengebündelt und verschlüsselt, ein Feuer der Hoffnung auf den Sinn der Schöpfung entfacht.
Klangraum, 1978